Erinnerungen an Kirchfarrnbach
 
 
von Erna Naegelsbach, geb. Weickmann
 
 

 

 
 

Die siebenjährige Tochter Erna des Pfarrers Georg Weickmann zog am 1. Juni 1901 mit ihren Eltern und Geschwistern in das neu erbaute Kirchfarrnbacher Pfarrhaus. Am 31. März 1908 verließ Pfarrer Weickmann mit Familie die Pfarrstelle. Ihre Erinnerungen an Kirchfarrnbach hat ihr Enkel Thomas Liggefeldt dankenswerterweise zur Verfügung gestellt.

Puschendorf war meine Kinderheimat, Kirchfarrnbach meine Jugendheimat. Ich erinnere mich noch gut an den Empfang durch die Gemeinde, als mein Vater in Kirchfarrnbach aufzog. Am Bahnhof in Wilhermsdorf stand eine bäuerliche Kutsche, vor die zwei Pferde gespannt waren. Vater, Mutter meine Schwester Lilli und ich wurden dahinein verfrachtet und nun gings der neuen Heimat entgegen. Am Dorfeingang war die Schuljugend versammelt, die uns mit einem Choral empfing, der Bürgermeister hielt eine Ansprache. Danach setzte sich der Zug, wir hatten inzwischen unsere Kutsche verlassen, in Bewegung und bei dem Geläute der Kirchenglocken zogen wir zum Pfarrhaus, das erst vor einigen Wochen fertig geworden war.

Für uns Kinder war das Pfarrhaus der reinste Palast; es war ganz aus Sandstein erbaut und machte mit seinen zwölf großen Zimmern einen wirklich stattlichen Eindruck, nach den heutigen Begriffen allerdings keinen geschmackvollen. Rings um das Haus lag ein schöner Garten und Hof. Der Haupteingang war auf der Nordseite. Zur Haustüre führten einige Stufen in eine Art Loggia mit Rundbogenfenstern ohne Glas. Rechts neben der Haustüre war ein kleines Guckloch, durch das man in die schöne große, schöne Küche sehen konnte. Es diente dazu, dass man beim Läuten der Hausglocke feststellen konnte, wer Einlass begehrte. Alle Fenster der Parterreräume waren mit Eisengitter versehen. Durch diese Gitter steckten wir mit Vorliebe unseren Kopf und es war jedes Mal spannend, ob man ihn auch wieder herausbringt. Der eigentliche, sehr große mit roten Platten belegte Hausflur war durch eine Flügeltüre und einen kleinen Gang von der Haustür getrennt. Im Erdgeschoss befanden sich vier große Wohnräume und die Küche. Alle, bis auf ein Zimmer, waren Eckzimmer, also alle ziemlich kalt. Im Oberstock, zu dem eine schöne, breite Treppe führte, war ein ebenso großer Hausplatz und sechs große Schlafzimmer, d.h. eines der Zimmer, das einen sogenannten altdeutschen Erker hatte, war Vaters Studierzimmer. Wir konnten uns also herrlich ausbreiten, Gäste beherbergen und fleißig die Zimmer wechseln, was eine besondere Liebhaberei meines Vaters war. Auf dem unteren Dachboden waren noch einmal zwei kleine Zimmer, die einzigen unheizbaren Räume des Hauses. Heute wohnen wohl mehrere Familien in unserem Pfarrhaus. Licht und Luft und Sonne und Freiheit, das haben wir in dem neuen Haus genossen.

Im südlichen Teil des Hofes stand ein großer Kirschbaum, der uns alljährlich mit noch fünf anderen seiner Art, die aber in den großen Obstäckern am Westende des Dorfes standen, reichlich herrliche Kirschen, von der dunklen, großen Herzkirsche, der gefleckten, rosa Kirsche bis zu den kleinen Vogelkirschlein, die wir fast immer den Vögeln überließen, bescherte. Was haben wir doch Obst geerntet in den sieben Jahren, die Vater in Kirchfarrnbach amtierte. Pflaumen und Zwetschgen und Äpfel und Birnen gab es zentnerweise. Oft haben wir den Reichtum nicht mehr geschätzt, weil wir auch viel mithelfen mussten bei der Ernte und weil wir fast nie Fleisch zu den Mahlzeiten erhielten, sondern nur Mehlspeisen und Obst. Zwetschgenmus wurde ganze Tonnen voll eingekocht und Zwetschgenkuchen gab es im Herbst jeglichen Tag. Meine Mutter schürte damals täglich den großen Holzbackofen, um Brot oder Kuchen zu backen, Mus einzukochen und Obst zu dörren. Damals gab es noch keine Holznot, gehörte doch zur Kirche ein großer Wald, aus dem man jedes Jahr das Besoldungsholz holte, soviel man eben brauchte.

Kirchfarrnbach liegt auf der nördlichen Höhe des Farrnbachtales, das sich von Osten nach Westen zieht. Es ist eine ausgesprochene fränkische Landschaft mit Sand, Föhrenwäldern und großen Fischweihern. Ganz nahe an der Farrnbach, die hart am Südhang des Tales fließt, liegen schöne Wiesen. In einer dieser Wiesen stand über einem kleinen Bachlauf unser Fischhäuschen, in das alle Jahre zweimal viele Karpfen gebracht wurden, die vom Pfarrer verzehrt werden durften. Auf eben diese Wiese, die auch zum Pfarrhof gehörte, mussten wir täglich unsere Geißen führen. Wahrscheinlich haben wir die Tiere fleißig geärgert, denn es verging kaum ein Tag, an dem wir nicht auf das Dach des Fischhäuschens klettern mussten, um vor den Hörnern der Untiere gesichert zu sein. Ein großes Vergnügen bedeutete uns das Krebse fangen in der Farrnbach. Wir brachten es da zu einer gewissen Geschicklichkeit und Krebssuppe war bei uns gar keine so seltene Speise. Eben in diesen Wiesen des Farrnbachtales entsprang eine Quelle, die angeblich besonders gutes Wasser haben sollte. Und jeden Tag vor dem Essen, Sommer wie Winter, mussten entweder Moritz oder ich dorthin Wasser holen, sehr zu unserem Leidwesen. Einmal, bei Überschwemmung im Frühjahr, schickten wir unseren Wasserkrug auf Wanderschaft, meinend, dass nun das lästige Wasser holen aufhöre; dem war aber nicht so, aber eine Tracht Prügel war der Lohn für diese böse Tat. Mit den Bauernkindern hatten wir gute Freundschaft, Kühe hüten, Kartoffeln klauben, Schussern oder Eier rollen an Ostern, das gehörte mit zu unseren Hauptfreuden; nicht zu vergessen das Dreschen im Herbst. Fast alle diese Freuden genossen wir heimlich, also verbotenerweise, es war aber umso schöner.

Das Jahr 1904 brachte allerlei Ereignisse. Erstens hatte sich mein Vater, als erster Pfarrer des Dekanats, ein Fahrrad, Marke Brennabor, angeschafft. Es war ein Rad, das sogar schon mit Freilauf ausgestattet war und die ganze Familie war immer beteiligt, wenn Vater Radfahren lernte. Dabei ist manche Unterrichtsstunde für uns ausgefallen und noch profitlicher waren wir, als Vater anfing, tagelange Touren zu machen. Kaum war Vater fort, so war der Teufel los, d.h. wir taten keinen guten Zug mehr, ließen lateinische Grammatik und Lehrbuch in der Schublade liegen und führten ein herrliches Leben, ohne an die Folgen zu denken. Die Mutter ermahnte uns wohl öfters: „Gott, Kinder lernts, dass es keine Aufregung gibt“, aber wir lernten natürlich nicht.

Das zweite Ereignis war Vaters Beförderung zum Dekanatsverweser für das Dekanat Markt Erlbach. Er blieb es zwei Jahre und wir hatten jedes Jahr den Genuss die Synode, an der alle Pfarrer des Dekanats mit ihren Frauen und ihren Kirchenvorständen in Kirchfarrnbach und im Pfarrhaus erschienen, um im Pfarrhaus unter Vaters Vorsitz wichtige Fragen zu beraten. Das ganze Haus war zu diesem Zweck gekehrt und festlich geschmückt, auch die Kirche. Bis zum Gottesdienst um 9 Uhr waren alle Pfarrherren mit Begleitung in ihren Kütschlein angerollt und wurden von den Eltern feierlichst empfangen. Feierlich zogen die Abgeordneten im Zug zur Kirche, die schon mit viel Neugierigen dicht besetzt war. Einer der Herren war Synodalprediger, auch ein Kirchenchor sang, es war also recht stimmungsvoll und interessant. Nach dem Gottesdienst begannen die Verhandlungen, doch vorher gab es diverse Brötchen und Wein als Stärkung. Sogar ein Mittagessen, und zwar ein hochnobles, war um 1 Uhr für alle geistlichen Würdenträger und ihre Frauen bereit und Onkel Herrmann Hacker musste jedes Mal während einer Verhandlungspause antreten und den „Versucher“ machen. Er war ein bekannter Feinschmecker und auf sein Urteil hin, das jedes Mal gut ausfiel, richtete Mutter getrost das Essen an. Da jedes Mal einige Pfarrerskinder mitkamen, hatten wir auch einen recht unterhaltsamen Tag. Die Verhandlungen waren meist um 4 Uhr zu Ende und dann gab es bei schönem Wetter noch eine gemütliche Kaffeestunde unter dem großen Nussbaum. Wie hat man doch damals Kuchen backen können, trotz der geringen Einnahmen!

Am 17. Dezember wurde unsere Schwester Clara geboren, nachdem die Jahre vorher zwei Geschwister geboren und gestorben waren. Clara war ein schönes, aber sehr zartes Kind, sie war eigentlich immer krank. Einmal, ich glaube 1905, nahm Mutter sie mit nach Davos, doch kamen beide nach 14 Tagen wieder, da weder Mutter noch Kind das hohe Klima vertragen konnten. Clara hatte während der 14 Tage kaum geschlafen und sah erbarmungswürdig aus. Ich hatte die Aufgabe, sie abends zum Schlafen zu bringen. Da sie aber lange nicht einschlafen wollte, so hielt ich ihr einfach die Augen zu, oder drohte mit dem Hansbursch. Es war mir eine Qual Abend für Abend im verdunkelten Schlafzimmer zu sitzen und zu hören, wie die Kameraden draußen Fangerles oder Anschlagversteck spielten. Aber alles Murren half nichts, ich wurde meiner Pflichten nicht enthoben.

1906, gerade zur Zeit der großen Nürnberger Ausstellung wurde unsere Marga geboren. Sie war von Anfang an das Gegenteil von Clara: dick und rund und vergnügt. Aber es waren nun zwei kleine Kinder im Haus und für mich, der Ältesten, hatte die Spielzeit aufgehört. Mutter war viel krank und müde und so wurde mir Clara auch zur Nachtzeit anvertraut. Dienstmädchen war meist keines da, oder nur ein unzureichendes, so wurde eben ich eingespannt, musste jeden Morgen um 6 Uhr aufstehen, helfen Zimmer richten, Kaffee kochen und Semmel holen, helfen Windeln waschen und baden etc. und um 9 Uhr zum Unterricht antreten. Ich hatte wirklich oft nicht mehr als 4 oder 5 Stunden geschlafen und leistete dann natürlich entsprechend wenig im Unterricht. Niemand aber fand, dass die Überanstrengung schädlich sein könnte, ich am wenigsten, wusste ich es doch nicht anders.

1907 wurde ich konfirmiert und man überlegte, was aus mir werden sollte. Ein Angebot des Onkels, mich durch seine Hauslehrerin, die er für Alice angestellt hatte, auch zu einem Beruf vorbereiten zu lassen, wurde angenommen und ich zog im Juli 1907 stolz mit Vater nach Davos. Doch es kam alles anders als geplant war. Wir waren kaum 14 Tage in Davos gewesen, als ein Telegramm die Nachricht brachte, dass die Pfarrscheune abgebrannt sei und Vater sofort heimreisen sollte. Ich blieb vorerst noch, musste dann aber auch heim, da Mutter durch die Aufregungen erkrankt war und kein Dienstmädchen mehr da war zur Hilfe. Was war geschehen? Wir hatten ein Mädchen zur Hausarbeit, die eine ausgesprochene Hysterikerin und Psychopatin war. Durch einen Brand im Nachbarort war sie angeregt worden, auch so ein Feuerlein zu inszenieren. Einmal aus Freude an der Sensation, dann auch aus Hass gegen unsere Mutter, die sie einfach nicht leiden konnte. Kurz und gut, sie legte Feuer in der Scheune und auf dem Pfarrhausboden im Registraturschrank und bis man merkte, was los ist, war es schon zu spät. Doch die Scheune brannte lichterloh und der Dachboden auch. Doch konnte das Haus noch gerettet werden, da Mutter eimerweise Wasser schleppte und in die brennenden Schränke goss. Inzwischen hatte sich Marie der Schlüssel zum Kassaschrank bemächtigt, sie wollte das dort liegende Geld des Raiffeisenvereins nehmen und dann verduften. Beim Öffnen des Schrankes überraschte sie meine Mutter und es gelang ihr sie festzuhalten und einzusperren, bis die Polizei kam. Es gab dann lange Untersuchungen und Verhandlungen und Marie musste ins Gefängnis. Sie gestand alles sofort ein und gab an, dass sie eben ein Feuer gerne sehe und außerdem meinen Vater gern habe.

Unsere Mutter hat damals Unsagbares gelitten, Vater natürlich auch, obwohl er ja ganz ohne Schuld war. Wir blieben nun ohne Hilfe, auch als im Januar Hermine geboren wurde und ein Vikar ins Haus kam, da Vater gerade in diesem Jahr viel krank war. Ich war nun zeitweise alles: Hausmutter und Dienstmädchen und Köchin und Kindermädchen und mit der fröhlichen Jugendzeit schien es endgültig zu Ende zu sein. Man warf mich ins Wasser, ohne dass ich schwimmen gelernt hatte und es ging auch. Arbeiten musste ich von früh bis spät und jede Nacht aufstehen und die drei kleinen Kinder versorgen, denn Mutter lag viele Wochen im Bett. Es hat mir nichts geschadet, das weiß ich heute, damals habe ich mich nicht darüber besonnen.

Wenn ich über Kirchfarrnbach schreibe, so darf ich einige Originale nicht unerwähnt lassen. Er war erstens unser Hauptlehrer und Kantor G. Mit einer fünfköpfigen Familie zog er eines Tages in Kirchfarrnbach auf. Da die Kinder all in unserem Alter waren, so gingen wir im Schulhaus täglich aus und ein. Der Vater war ein furchtbar aufgeregter und großsprecherischer Mann. Immer ging es dort hoch her und uns imponierte vor allem die vornehme Wohnungseinrichtung der beiden guten Stuben. Dass alle Möbel auf Pump gekauft waren und nach und nach vom Gerichtsvollzieher wiedergeholt wurden, merkten wir erst im Laufe der Jahre. G. kam oft zu Vater ins Studierzimmer und jedes Mal mit der Bitte um Geld. Dieses und einen Zylinder für Leichenbegräbnisse gab er jedoch nie zurück. An Silvester hatte G. dann sogar den Mut feierlich die Glückwunschvisite bei uns eben in diesem Zimmer zu machen. Um etwas mehr Geld zu haben stickte die Frau G. für ein großes Geschäft Tischdecken und Vorhänge und ihre alten Eltern malten Zinnsoldaten an. Aber trotzdem ging es mit der Familie nie in die Höhe und eines Tages mussten sie auch Kirchfarrnbach, wie vorher Obersteinbach, der vielen Schulden wegen verlassen. Diesmal bargen die Möbelwagen nur altes Gerümpel, da kein Geschäft mehr Möbel für G. auf Pump liefern durfte.

Zwei Originale waren auch das Geschwisterpaar Durl und Veit. Sie waren auf einem großen Bauernhof aufgewachsen; ihr Vater hatte aber den ganzen Hof vertrunken, sodass die Kinder bis ins Alter nur Dienstboten waren und dann das Armenhaus in Kirchfarrnbach bewohnten. Die Durl machte die Wilhermsdorfer Botin und schleppte bei jedem Wetter ihren schweren Huckelkorb voll mit Aufträgen zwischen Kirchfarrnbach und Wilhermsdorf hin und her. Sie konnte herrliche Geschichten erzählen, ebenso der Veit, falls er nicht, was alle Vierteljahr vorkam, stockbesoffen war und beide dufteten schon 100 Meter gegen den Wind nach Geißen. Auch bei ihnen saßen wir sehr oft und solche Ofennudeln, ein Teig aus Kartoffeln und Mehl und Äpfel, habe ich seither nicht mehr gegessen.

Auch der Meister Resch, ein Schreinermeister und unser Nachbar, soll nicht vergessen werden. Er war immer im Trab, bei jeder Arbeit und immer vergnügt.

 
     
  Anhang  
 
Heute noch sichtbar: Brandspuren von 1907 bei den gebundenen Kreisintelligenzblättern
 
 
 
     
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